Jasmina El-Sonbati
Freie Journalistin, Basel
Eine neue Religiosität prägt das öffentliche Leben. In Ägypten hat die Hinwendung zum Islam in allen Bereichen sichtbar zugenommen. Wie erklären Ägypterinnen und Ägypter die Entwicklung?
Der Psychiater Hani Subki beobachtet eine Vervielfachung religiöser Aktivitäten. Übertriebene Sorgen um das korrekte Ausführen der Rituale und Pflichten würden zu einer Art religiös bedingter Neurose führen. «Sogar die Krankheit hat ein religiöses Gesicht bekommen.»
Von der psychotherapeutischen Praxis direkt in den Untergrund von Kairo. Die in den 70er Jahren unter Präsident Anwar Sadat erbaute U-Bahn ist ein verlässliches Barometer in Sachen Religion. An den Wänden der Metrowagen sind Aufkleber mit Koranversen angebracht. Die Mehrheit der Frauen ist islamisch gekleidet oder vollständig verhüllt. Der fünfmalige Gebetsruf ertönt selbst «unter Tag». Eifrige Glaubensgenossinnen fordern die Fahrgäste zu gebetsähnlichen Gesängen auf.
IMPORT-ISLAM. Gamal al-Banna, der Bruder des Gründers der Muslimbruderschaft, sorgt wegen seiner liberalen Haltung immer wieder für Irritation. Auch er nimmt die Allgegenwärtigkeit des Religiösen in der Öffentlichkeit wahr und plädiert deswegen für Mässigung: «Die Realität hat viele Gesichter, und die Religion kann nicht alles abdecken. Denken wir an Wissenschaft, Kunst, Philosophie. » Die heute in Ägypten vorherrschende Version des Islam schränke zu sehr ein, sagt Banna. «Unser Land war immer liberal und tolerant, der neue Trend ist ein Import aus Saudi-Arabien.» Ägyptische Arbeitsmigranten, die in den 70er und 80er Jahren in der wirtschaftlich aufstrebenden Golfregion zu Wohlstand kamen, hätten die wahhabitische Variante, eine der strengsten Auslegungen des Islam, nach Ägypten gebracht.
UNÄGYPTISCH. Salama Ahmed Salama, Doyen unter den ägyptischen Journalisten, geht mit Banna einig. «Der neue Islam kommt aus der arabisch-beduinischen Tradition.» Was ist darunter zu verstehen? «Nehmen wir das Gebet. Es ist ein fester Bestandteil des urbanen Lebens geworden, dies ist zutiefst unägyptisch.» - Längst wird nicht mehr nur an Freitagen öffentlich gebetet. Büroräume, Strassen, Bahnhofshallen, Sportplätze, sogar Liftschächte werden zu Gebetsräumen umfunktioniert. «Gedanklich will dieser Import einen Gegenentwurf zum Westen formulieren», sagt Salama. Religion als Lösung? «In gewisser Hinsicht schon. Alle arabischen Bewegungen haben versagt. Jetzt erscheint der Islam als einzig unverbrauchte Ressource.» In Kairo sehen wir jegliche Formen weiblicher Verhüllung, von sexy bis keusch; Modegeschäfte und Modeschauen für islamisch korrekte Damenkleider, Frauencafés ohne Zutritt für Männer, Theaterstücke nur mit männlichen Darstellern, religiöse Fernsehsendungen mit populären Predigern, Unterweisungen in Rezitation und Interpretation des Korans. Auch der zunehmende Gebrauch religiöser Floskeln fällt auf: Alles Merkmale eines neuen Lebensstils. Heba Rauf, Politologin, interpretiert das «neue Bewusstsein» als Gegenreaktion auf die «Unterdrückung» der Religion in den 60er und 70er Jahren. «Die Mütter der jungen Frauen tragen mehrheitlich den verhüllenden Hijab. Es hat sich eine neue Norm etabliert. Die Leute wollen endlich ihre Religiosität zeigen dürfen.» Dass deswegen Druck auf Andersdenkende ausgeübt werden könnte, verneint Rauf.
QUELLE DER STÄRKE. Für den «unabhängigen» Abgeordneten Mohammed al-Belatgi – religiöse Parteien sind verboten, deshalb kandidieren die Muslimbrüder als Unabhängige – hat die Gleichheit aller Bürger oberste Priorität: «Demokratie und Freiheit für alle», fordert er. «Es darf keine Bevorzugung aufgrund der Religion geben.» Derzeit sind die Muslimbrüder fest im Würgegriff der Regierung, einige Hundert sitzen im Gefängnis. Warum hat die Regierung Angst vor den Muslimbrüdern? «Wir springen dort ein, wo der Staat versagt hat. Wir sind für die notleidende Bevölkerung da. Bei uns finden alle schnell und unbürokratisch Hilfe.» Welche Rolle spielt der Islam im Parteiprogramm? Der etwa 35-jährige Mediziner strahlt: «Der Islam ist Quelle der Stärke und Einheit.» Mit solchen Äusserungen hat der Journalist Salama ziemlich Mühe. Trotzdem ist er für die Einbindung der Muslimbrüder in den demokratischen Prozess: «Den Muslimbrüdern fehlt eine profunde politische Bildung. Um wirklich demokratiefähig zu werden, müssen sie ihre Inhalte neu definieren.
AUSGRENZUNG DER KOPTEN. Wie erleben die Kopten, die christliche Bevölkerung Ägyptens, den neuen Trend zum Islam? William Sidhom stammt aus einer koptischen Familie in Oberägypten. Er ist seit zwanzig Jahren an der «Sainte Famille» tätig, einem von Jesuiten geführten Gymnasium in Kairo. Ein gewisses Gefühl der Ausgrenzung sei nicht zu verleugnen, sagt Sidhom. Deshalb setze er sich für einen «religionsneutralen» Staat ein, in dem nicht das islamische Recht die Grundlage der Gesetzgebung bildet. «Die Kopten ziehen sich immer mehr in die Kirchen zurück, diese sind eine Art Freizeitzentrum geworden. Wer es sich leisten kann, wandert ohnehin aus», weiss der Pater. Die Regierung ihrerseits bemühe sich nicht ernsthaft um eine Verbesserung des muslimisch-koptischen Zusammenlebens, sie laviere aus politischem Kalkül zwischen den Religionsgemeinschaften.